Nachhaltige audiovisuelle Produktion

Curare, Diálogos para decolonizar la Escucha y Transformar la Imagen. Der Name Curare leitet sich vom traditionellen Gift der indigenen Völker des Amazonas ab und symbolisiert hier die Fähigkeit, unsere Wahrnehmungen zu „entgiften“. So wie das Curare den Körper lähmt, haben viele koloniale Narrativen die Fähigkeit gelähmt, aus nicht-dominanten Perspektiven zu hören und zu sehen. Durch diese Dialoge wollen wir diese kolonialen Denkstrukturen aufbrechen und neue Wege des Zuhörens und Sehens der Welt bieten, wodurch unsere Beziehung zu historisch zum Schweigen gebrachten Bildern und Stimmen transformiert wird.

Valery: Willkommen, liebe Zuhörende, zu Curare, einem Raum für undisziplinierte Stimmen und alltäglichen Reflexionen. In dieser Folge sprechen wir mit Juliana Zuluaga und Ismael García von Crisálida Cine. In diesem Gespräch teilen wir Gedanken über audiovisuelle Produktion mit begrenzten Ressourcen als Motor für politisches und ethisches Engagement.

Valery: Willkommen, Juliana, Ismael. Ich möchte euch zunächst kurz vorstellen, damit unsere Zuhörer*innen eine Vorstellung davon bekommen, wer ihr seid, und sich ebenso für eure Arbeit begeistern können. Juliana ist Filmemacherin und feministische Aktivistin, hat einen Master in Dokumentarfilm und interessiert sich für den Körper, die Beziehungen zwischen Spezies und dem Postporno aus einer transfeministischen, dekolonialen und posthumanistischen Perspektive. Zu ihren Arbeiten gehören Kurzfilme wie „Bajo tu sombra“, „Presagio“, „Sodoma, la mujer de la luna“ und „La noche del minotauro“. Als Produzentin hat sie an den Kurzfilmen „El tercer mundo después del sol“, „Los pájaros vuelan de a dos“, „Paraíso“ und „Entre las sombras arden mundos“ gearbeitet. Derzeit arbeitet sie an ihrem ersten Spielfilm „Las mujeres del reino“ als Regisseurin.

Ismael ist Regisseur und Drehbuchautor, im Bereich audiovisuelle Kommunikation tätig und studiert Anthropologie. Er interessiert sich für die Universen, die durch Sprache möglich werden, und für eine Inszenierung, die mit den Bedürfnissen des globalen Südens im Einklang steht. Sein erster Kurzfilm „Entre las sombras arden mundos“ wurde bei verschiedenen nationalen und internationalen Festivals ausgezeichnet, wie zum Beispiel beim UNAM Film Festival, wo er die Silberne Puma-Medaille für den besten Kurzfilm gewann, und beim Clermont-Ferrand International Short Film Festival, wo er den Preis für den besten Film erhielt.

Bevor wir richtig ins Gespräch einsteigen, möchte ich erzählen, dass Juliana und Ismael bei der letzten Ausgabe von La Sur Real in Leipzig und auch in Berlin dabei waren. Sie präsentierten die Kuratierung „Portales de archivo Shub“, ein Kollektiv, das mit der Wiederherstellung und dem Recycling von Bildern und Tönen arbeitet, die als verloren galten, um am Ende des Prozesses neue audiovisuelle Werke zu schaffen. Sie waren auch bei unserem Programm in Leipzig „Ruido para ampliar el espectro“ dabei, wo sie die Kurzfilme „Entre las sombras arden mundos“ und „Sodoma, la mujer de la luna“ präsentierten. Als ich darüber nachdachte, wo ich anfangen soll, mit all den Informationen, die ihr mitbringt, dachte ich: Fangen wir am Anfang an, als alles noch dunkel war, haha. Juliana, erzähl mir, wie ist Crisálida Cine entstanden, und wer steht dahinter?

Juliana: Also, ich glaube, die Entstehung von Crisálida war etwas hektisch. Vorschnell und nicht wirklich geplant. Es ging alles sehr schnell. Ich habe an der Hochschule für audiovisuelle Kommunikation am Politecnico in Medellín studiert, zusammen mit Tiagx, der*die eine*r der Mitgründer*innen von Crisálida ist. Wir wollten uns für eine Ausschreibung bewerben, ich erinnere mich, es war eine Ausschreibung des regionalen Senders Teleantioquia, und dafür brsuchte man eine juristische Person. Also haben wir Crisálida in einer Woche gegründet, ohne viel nachzudenken. Nun gibt es uns seit 11 Jahren. Am Anfang war alles sehr spontan, und wir hatten keine klare Vorstellung davon, dass wir Filme machen wollten; wir wollten einfach nur im audiovisuellen Bereich arbeiten, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Später entdeckten wir, dass es wirklich das Kino war, das uns interessierte.

Ein entscheidender Moment war, als wir an einem Workshop in San Antonio de los Baños, Kuba, teilnahmen. Dort erkannten wir: „Nein, was wir machen wollen, ist Kino“. Es war sehr schön, weil ich das Gefühl habe, dass wir uns, besonders mit Tiagx, mit dem*der wir so viel Zeit zusammen verbracht haben, immer wieder mit gemeinsamen Fragen und Erkundungen auseinandersetzen. Von Anfang an haben uns Themen wie Geschlechterrollen, sexuelle Identitäten interessiert, und in den letzten Jahren haben wir auch begonnen, unsere Beziehung zu anderen Spezies zu hinterfragen, von der Ernährung bis zum Antispeziesismus. Aus diesen Reflexionen heraus haben wir unsere Werke aufgebaut. Auch Freundschaft spielt dabei eine sehr wichtige Rolle.

Dann kam Ismael dazu. Obwohl wir drei das Kernteam von Crisálida sind, arbeiten wir immer mit einer kleinen Familie oder Gruppe zusammen, mit der wir bei den verschiedenen Projekten kollaborieren. Mit ihnen haben wir Wege gefunden, wie wir uns besser verständigen können, immer auf der Suche nach neuen Wegen und neuen Ideen. Diese Zusammenarbeit ist von großer Zuneigung geprägt, was die Kommunikation sehr einfach macht. Ich weiß nicht, ich habe das Gefühl, wir sind eine Familie.

Valery: Ismael, wie bist du zu Crisálida gekommen? Wie habt ihr euch kennengelernt, du und Juliana?

Ismael: Oh, das ist eine großartige Geschichte mit mehreren Phasen. Es gibt einen ersten Moment, an den ich mich gut erinnere: Juliana hat an der Universität, an der ich studierte, gelehrt. Und etwas, das Juli hat, ist, dass sie, wo immer sie lehrt, auf eine unglaubliche Art hervorsticht. Ihre Kurse bleiben nicht nur im Seminarraum, sondern die ganze Universität spricht darüber. Ich hatte nie direkten Unterricht bei Juliana, aber ich wusste, dass sie da war und dass sie großartig war. Also bin ich zu ihr gegangen und habe gesagt: „Juli, möchtest du diesen Drehbuchentwurf mitproduzieren?“ (Er hieß „El buen cachimbo“, haha). Juli hat ja gesagt, aber nie mehr geantwortet.

Juliana: Oh, entschuldige, entschuldige! Ich konnte in diesem Moment nicht antworten, tut mir leid, Isma.

Ismael: Es war ein schöner Moment, aber danach haben sich meine Interessen mehr auf das Kino verlagert. Der zweite Moment, in dem wir uns dann wirklich kennengelernt haben, war ebenfalls rein zufällig. Ich musste für ein Radioseminar einen Podcast machen und habe beschlossen, Juli zu interviewen. Ich erinnere mich, dass sie damals etwas sagte, das mich sehr berührte und das meiner Meinung nach viel mit den aktuellen Themen von Crisálida zu tun hat: „Lass dich von nichts aufhalten.“ Diese Aussage blieb mir im Kopf. Später sagte Juli mir, dass sie die Produktion eines Films macht und fragte, ob ich mitarbeiten wolle.

Juliana: Nun, dieser Film war eine sehr intensive Erfahrung, und ich denke, dass uns das sehr verbunden hat. Wir hatten viele Fragen zum Kino und zur Art und Weise, wie Filme gemacht werden sollten. Wir haben uns immer weiter verbunden und schließlich erkannten wir, dass Ismael Teil von Crisálida werden musste. Anfangs hatte ich Zweifel, weil er weniger Erfahrung als wir hatte und ich ihm nicht die Flügel stutzen wollte. Manchmal, wenn man mehr Erfahrung hat, glaubt man, alles zu wissen, aber wenn man anfängt, sucht man ständig nach dem, was man machen will. Am Ende haben wir beschlossen, zusammen zu arbeiten, und es war wunderschön zu sehen, wie wir uns gegenseitig ergänzen. Dann freundete Isma sich sehr mit Tiagx an, und nach einiger Zeit beschlossen wir, dass es an der Zeit war, dass er auch seine eigenen Filme mit Crisálida produzierte und uns bei unseren Projekten half. Es wurde zu einer Beziehung geprägt von wechselseitiger Unterstützung, was uns sehr wichtig ist.

Valery: Juliana, du hattest in unseren Gesprächen erwähnt, dass das Arbeiten mit begrenzten Ressourcen eine politische Entscheidung ist. Wie hat diese Vision deinen kreativen Prozess im Kino beeinflusst?

Juliana: Nun, für mich war das wirklich prägend für die Art und Weise, wie ich heute über das Kino nachdenke. Wir kommen aus einer sehr hegemonialen, narrativen Fiktion, und unsere ersten Werke waren sehr an diese traditionellen Modelle der Ästhetik und der Produktion gebunden. Es waren sehr hierarchische und vertikale Strukturen. Wir waren nie Tyrann*innen oder so, aber wir folgten diesen Formen. Es war wie ein Film mit einem großen Team, und man fühlte sich „professionell“. Das änderte sich, als ich meinen Master in Dokumentarfilm machte. Gleichzeitig begannen wir, unsere Beziehung zu anderen Spezies und das Thema Antispeziesismus zu hinterfragen, was unser Verständnis vom Kino stark beeinflusste. Ich war sehr frustriert. Sogar mein Ex-Freund sagte einmal etwas, das mich sehr prägte: „Warum solltest du Regie führen, wenn du schon eine so gute Produzentin bist?“ Und tatsächlich war das eine Idee, die ich selbst auch in meinem Kopf hatte – dass ich nur Produzentin sein sollte, was mir als sexistisch erschien, weil die Gesellschaft mir zuschrieb, gut im Organisieren zu sein, und dass ich dort bleiben sollte, anstatt zu kreativ zu arbeiten.

Also war ich sehr frustriert, und dann kam mir mit einer Freundin eine spontane Idee. Wir haben einen Kurzfilm gemacht, der „Sodoma, la mujer de la luna“ heißt, ein sehr impulsiver Film. In Bezug auf die Ästhetik ist er sehr direkt. Es dauerte nicht lange, ihn zu machen. Wir setzten uns eines Abends hin, drehten, tranken, und am nächsten Tag sah ich mir das Material an und dachte: „Oh, da fehlen noch ein paar Dinge.“ Wir drehten sie, und fertig. Dieser Kurzfilm war die größte Offenbarung, die ich im Hinblick auf das Kino hatte, weil ich aufhörte, mich unwohl und unter Druck zu fühlen. Ich erkannte, dass Kino auch ein sicherer Ort sein kann, und dass man mit einer kleinen Kamera und seinen Freund*innen einen Film machen kann, ohne eine riesige Struktur zu brauchen. Von da an haben wir weitere Filme gedreht, wie „Presagio“, bei dem wir ebenfalls nach alternativen Produktionsmodellen suchten. Der Kurzfilm zeigte uns, dass der Mangel an Ressourcen kreative Räume eröffnet, die mit großen Budgets oft nicht erreichbar sind. Wenn man prekär arbeitet, muss man dreimal mehr nachdenken, um Produktionsprobleme zu lösen, und das verleiht dem, was man schafft, eine einzigartige Persönlichkeit. Mit „El origen de las especies“, dem Film, den wir kürzlich veröffentlicht haben, stellten wir fest, dass man Science-Fiction ohne große Budgets machen kann. Für mich war das sehr wichtig, weil es uns viel Sicherheit gegeben hat und unsere Arbeitsweise verändert hat. Jetzt geben wir der Intuition mehr Raum und denken darüber nach, wie wir verhindern können, dass wir die Menschen ausbeuten, die mit uns arbeiten.

Valery: Klar, das impliziert auch eine andere Art, sich in den gesamten Prozess einzubringen, ohne Eingrenzungen. Ismael, ich würde gerne von dir erfahren, welche wichtigen Entscheidungen ihr während des kreativen Prozesses getroffen habt und wie sie sich in euren Kurzfilmen widerspiegeln. Kannst du einen Moment oder Prozess teilen, der für euch besonders aufschlussreich oder transformativ war?

Ismael: Ich habe das Gefühl, dass ich Julis Weg sehr stark teile, weil ich auch an derselben Universität wie sie studiert habe. Es gibt etwas, das uns oft gesagt wurde, und das für mich sehr prägend war: Je mehr der Film, den du machst, dem Film in deinem Kopf ähnelt, desto besser ist deine Arbeit als Regisseur*innatürlich mit vielen Anführungszeichen. Das führte dazu, dass viele der Prozesse an der Universität für mich traumatisch waren. Die Regie oder der Ansatz, einen Kurzfilm zu machen, war von Angst durchdrungen: Angst, dass die Dinge schiefgehen, dass das, was du produzierst, nicht dem entspricht, was du dir vorgestellt hast, und dass du deshalb nicht als Regisseur*in oder Autor*in anerkannt wirst. Ich denke, das ist etwas, das uns das System ständig einprägt: die Notwendigkeit, sich in der Position, die man innehat, zu validieren.

Das Treffen mit Juli und einer Reihe von Leuten, die aus verschiedenen Kontexten kommen, wie David, der sehr erfinderisch ist, und Alejo, die beide sehr wichtige Personen für mich bei der Filmarbeit sind, ermöglichte es mir zu sagen: “Ich weiß es nicht.” Und ich konnte akzeptieren, dass ich es nicht wusste, dass ich verloren war und Hilfe brauchte. Das war eine fundamentale Sache, weil dieses System, das so maskulin ist und uns dazu drängt, ständig Stärke und Sicherheit zu demonstrieren, uns diese Räume der Verletzlichkeit verweigert, die für die kreative Schöpfung so wertvoll sind. Diese Verletzlichkeit, sowohl persönlich als auch ökonomisch, ist etwas sehr Schönes. Und auch dieses ständige Bestreben, der Welt das aufzudrücken, was du in deinem Kopf hast, ist eine sehr kolonialistische Idee. Was ich gelernt habe, ist, dass die Kontexte und Beschränkungen dir eine Form geben können, den Film zu machen, anstatt dass du dem Kontext etwas aufzwingst. Du lässt zu, dass die Welt dich verändert und Dinge entstehen, die du dir nie als der “allmächtige Autor” hättest vorstellen können.

Ismael: Manchmal sieht man das auch bei kleinen Dingen. Zum Beispiel hatten wir in unserem Kurzfilm eine Szene mit Motorrädern, die sich bewegen sollten, aber wir hatten nicht das Geld, um das zu realisieren. Also beschlossen wir, es auf eine falsche, symbolische Weise zu machen – wir haben diese Bewegung erschaffen, ohne unsere Prekarität zu verbergen, sondern sie zu umarmen. Wir haben uns entschieden, sie nicht zu verstecken, sondern sie als Teil unserer Realität, unserer Einschränkungen, zu zeigen. Und das hat dem Kurzfilm eine besondere Identität verliehen.

Ismael: Dasselbe passierte mit dem Nebel, der im Film auftaucht. Wir wollten spezielle Filter verwenden, aber letztlich haben wir eine Strumpfhose, Vaseline oder Zellophan auf die Kamera gelegt, um diesen Nebeleffekt zu erzeugen. Und ich denke, diese Prekarität hat dem Film am Ende eine ganz eigene Note verliehen.

Valery: Eine weitere bedeutende Entscheidung ist eure Arbeit mit Filmarchiven. Wir hatten auch ein bisschen über das Archiv Shub gesprochen, ich liebe diesen Namen übrigens. Er erinnert an Esther Shub, eine sowjetische Filmpionierin, die für ihren Schnitt und ihre filmische Montage bekannt ist. Sie schuf kraftvolle sozialpolitische Kritiken, indem sie bestehendes Filmmaterial neu kontextualisierte, zum Beispiel Bilder der Zaren. Es würde mich interessieren, wie die Arbeit mit Filmarchiven euch geholfen hat, dominante Narrative zu hinterfragen und herauszufordern. Könnt ihr erklären, wie sich dieser Ansatz in euren Projekten manifestiert?

Juliana: Ich finde es wirklich revolutionär, und es ist eine Form des Widerstands, sich Archivmaterial anzueignen. Wir haben viel darüber gesprochen, vor allem in der Vorbereitung zu “El Origen de las Especies”, denn wir kehren immer wieder zu einer für uns sehr wichtigen Referenz zurück, Donna Haraway. Sie spricht von einem Begriff, der so etwas wie „offenes Kompostieren“ bedeutet, und ich habe das Gefühl, dass, wenn wir diesen Ansatz auf das Kino anwenden, die Aneignung von Archivmaterial nicht nur neue mögliche Geschichten schafft, eine Art Gegen-Narrativ, sondern dass es auch auf ökologischer Ebene wichtig ist, ständig die Überproduktion von Bildern zu hinterfragen.

Es hat also eine politische Dimension. Ich habe viel über das Arbeiten mit Archiven in meinem letzten Kurzfilm “La Noche del Minotauro” gelernt. Dabei geht es mir vor allem um Archive im Zusammenhang mit einer imaginierten Erinnerung. Und das bezieht sich auf das, was ich bereits gesagt habe: Wer hat die Geschichte erzählt, und wem gehören die Bilder? Warum verlangt das Nationale Filmarchiv eine Menge Geld, um auf die Archive des Landes zuzugreifen, die eigentlich öffentlich sein sollten? Und warum können nur diejenigen, die Zugang zu diesen Archiven haben, die Geschichte erzählen? Als uns also bewusst wurde, dass wir nicht einmal eine Kamera brauchten, um Filme zu machen, dass wir einfach von unserem Computer aus mit beliebigem Material aus dem Internet einen Film schaffen konnten, da erkannten wir, dass Kino wirklich demokratisiert werden kann. Das gibt uns auch die Möglichkeit, unseren Filmen einen ganz eigenen Charakter zu verleihen.

Darüber hinaus hält es die Bilder lebendig und gibt ihnen eine neue Bedeutung, indem sie in einen anderen Kontext gesetzt werden. Das bereichert auch die nationale Filmproduktion. Für mich ist das eine sehr starke Methode.

Valery: Klar, die Entinstitutionalisierung und Demokratisierung der Archive schafft einen tiefgreifenden Wandel im Verständnis des kollektiven Gedächtnisses. Wie glaubt ihr, dass die Arbeit des Shub-Archivs in diesem Prozess der Öffnung von Archiven für die Öffentlichkeit die Wahrnehmung von Geschichte und kultureller Identität verändern kann, besonders in Gemeinschaften, die historisch marginalisiert wurden?

Ismael: Nun, ich hatte auch die Gelegenheit, einen Prozess mit dem Shub-Archiv zu erleben, als Teilnehmer eines ihrer Workshops. Es war eine beeindruckende Erfahrung. Zuerst einmal muss man sagen, dass das Archiv ein Privileg ist. Es ist ein Privileg, ein eigenes Archiv zu haben. Eine Familie, die ein Fotoalbum oder Videos besitzt, hat bereits ein Privileg. Vielleicht wird das in der Zukunft mit der Demokratisierung der Medien wahrscheinlicher, da heute jede*r ein Handy hat, aber es ist immer noch schwierig. In diesem Fall bietet das Shub-Archiv die Möglichkeit, dass du durch den Film dein eigenes vergangenes Ich erfinden oder zumindest ein Bild von dieser Vergangenheit schaffen kannst, die nie repräsentiert wurde. Das ist wunderschön.

Ich denke an Julis Kurzfilm “La Noche del Minotauro”, in dem sie sich eine eigene Vorfahrin erschafft. Vielleicht entspricht das nicht der Realität im faktischen Sinne, aber es ist eine Antwort auf ein reales Bedürfnis nach Repräsentation. In diesem Sinne ist es für mich sehr stark. Und ich wollte auch ein Beispiel für das bringen, was Juli über die Aneignung von Bildern gesagt hat. In “El Origen de las Especies”, besonders im Prolog, wurden Bilder von Raketen genommen und diese im Laufe des Films transformiert. Diese Raketen, die ein Symbol der Gewalt sind, wurden in Meteoriten verwandelt, die durch den Himmel fliegen. Das finde ich wunderschön, wie gewalttätige Bilder genommen werden und ihnen eine andere Bedeutung gegeben wird, um eine andere Geschichte zu erzählen.

Valery: Und wenn wir über diese anderen Ressourcen sprechen, die ihr in eure künstlerischen Praktiken einbezieht – in Berlin habt ihr uns auch von spekulativen Prozessen wie dem Tarot erzählt, das ihr in der Schaffung von audiovisuellen Werken verwendet. Inwiefern stellt dieser Ansatz eine intuitive und nicht-lineare Annäherung an die Erzählung dar? Erzählt uns ein bisschen mehr darüber, wie diese Praxis die traditionellen Grenzen von Dokumentar- oder Erzählkino erweitert und welche Auswirkungen das auf die Art hat, wie wir Wahrheit und Fiktion im Film verstehen.

Juliana: Ich glaube, wir sind ohne es bewusst zu wissen zu einer spekulativen Art des Erzählens gekommen. Es war nicht so, dass wir uns vorgenommen hätten, „speziell spekulativ“ zu arbeiten. Es war eher intuitiv. Die erste Erfahrung, in der wir das wirklich bewusst gemacht haben, war “Presagio”. Was ich an diesem Prozess so schön finde, ist, dass man nicht alles wissen muss. Man muss den Film nicht von Anfang an verstehen. Das finde ich wundervoll, dieses Nicht-Wissen, und es ermöglicht, dass Magie passieren kann. Wenn du dafür empfänglich bist – für das Leben, die Menschen, die anderen Tiere, die Welt, die um dich herum ist –, entsteht eine ganz andere Verbindung zu dem, was wir „die Realität“ nennen.

In “Presagio” hatten wir zum Beispiel kein detailliertes Drehbuch, sondern nur ein Konzept. Uns interessierten die Strommasten und wir gingen einfach hinaus, um sie zu filmen, ohne genau zu wissen, was wir finden würden. Es war eine intuitive Reise. Das Wichtige war, sich für das Unbekannte zu öffnen und das Leben auf sich wirken zu lassen. Und das hat uns dazu gebracht, immer weiter zu experimentieren.

Juliana: Es gibt auch das Thema Ressourcenknappheit. David zum Beispiel ist eine sehr sensible Person. Bei den Dreharbeiten zu “Presagio” haben wir zufällig Baumstämme entdeckt, die wie Meteoriten aussahen, und David sagte: “Das sieht aus wie ein Meteorit.” Es ist diese Fähigkeit, das Gewöhnliche als etwas Außergewöhnliches zu sehen und zu transformieren, die uns sehr inspiriert. Und dann spielen wir mit Licht, dem Fokus oder der Postproduktion, um diese alltäglichen Dinge anders aussehen zu lassen. Dadurch, dass wir uns überraschen lassen und mit dem arbeiten, was uns begegnet, wird die Erzählung lebendig.

Juliana: Für mich war diese Arbeitsweise eine Offenbarung. Seitdem bin ich mir nicht sicher, ob ich je wieder einen Film auf die traditionelle, hegemoniale Art drehen möchte – mit einem fertigen Drehbuch, allen Dialogen und festgelegten Einstellungen. Ich arbeite nicht so. Ich bin viel intuitiver. Früher dachte ich, ich sei deshalb keine gute Regisseurin, weil ich diese technischen Dinge nicht beherrsche, aber jetzt habe ich verstanden, dass das einfach eine andere Art ist, Dinge anzugehen. Ich komme mit einer Idee ans Set, aber dann spreche ich mit dem Team, wir treffen die Entscheidungen gemeinsam. Es geht nicht nur um meine Vision. Manchmal sagen mir die Kamerafrauen: “Hier sieht es besser aus”, und wir drehen dort. Oder jemand aus dem Team schlägt vor: “Lasst uns ein Lied singen.” Alles ist sehr flexibel und lebendig, und das ist wunderschön.

Valery: Ich verstehe. Und gerade als Ismael über “El Origen de las Especies” sprach und darüber, wie den Bildern eine neue Bedeutung verliehen wurde, erinnerte ich mich daran, dass wir in Leipzig darüber gesprochen haben, wie wichtig es ist, Repräsentationen zu unterwandern und andere Körperlichkeiten zu erforschen, besonders im Hinblick auf Gender und Lust als Formen des Widerstands. Wie verbinden sich diese Themen in euren Projekten, und wie gelingt es euch, die traditionellen Erzählungen von Schmerz und Leid zu umgehen?

Juliana: Also, ich glaube, dass in den Filmen, die ich in letzter Zeit gemacht habe, ein großes Interesse an feminisierten Körpern besteht, oder? Ich war mein ganzes Leben lang sehr unzufrieden mit den gängigen Erzählungen und dem Platz, den Frauen in diesen Erzählungen einnehmen. Ich habe das Gefühl, dass unsere Körper immer aus einer Perspektive des Leidens dargestellt werden. Unsere Körper werden immer wieder und wieder vergewaltigt, zerstückelt, ermordet, misshandelt – immer wieder, immer wieder.

Und das finde ich super besorgniserregend, weil die Mehrheit dieser Darstellungen keine Anklage ist. Vielmehr scheinen sie diese Realität zu bekräftigen und zu reproduzieren. Man hinterfragt den Missbrauch nicht, man zeigt einfach Männer, die Frauen belästigen. Und das sehen wir von klein auf. Wir lernen ständig sehr gewalttätige, koloniale Dinge. Deshalb habe ich mich dafür entschieden, andere Geschichten zu erzählen. Ich möchte über andere Dinge sprechen. Ich interessiere mich sehr für das Thema Lust, wie es uns befreien kann, wie Freude und Vergnügen auch Möglichkeiten bieten, andere Welten zu erschaffen oder andere Realitäten zu zeigen, die wir hier auch leben.

Denn ich denke, dass diese Tradition des Kinos, besonders in Medellín, so naturalistisch ist. Wie der ganze Film von Víctor Gaviria – das ganze hyperrealistische, gewalttätige Kino. Da gibt es eine komische Beziehung zur Gewalt, die mich nicht überzeugt. Klar, mir gefallen einige dieser Filme, sie waren zu ihrer Zeit wichtig, aber ich möchte weiter gehen. Ich möchte etwas anderes als diese Vorstellung, dass alles auf eine tragische Weise erzählt werden muss. Wenn du das Kino in Medellín analysierst, siehst du, dass junge Menschen immer in einem bestimmten Kontext von Gewalt gezeigt werden. Und ich frage mich: Warum glauben wir, das Recht zu haben, die Jugend von Medellín auf diese Art und Weise darzustellen, als ob sie nur kriminell oder Opfer wären? Warum können wir sie nicht mit mehr Zuneigung zeigen?

Juliana: Für mich ist die Antwort darauf Postporno, die Aneignung von Bildern, und das Erzählen von Geschichten mit meinen Freund*innen, bei denen sie sich selbst filmen und ihre Geschichten erzählen können. Es geht nicht nur um Repräsentation, sondern auch um den kreativen Prozess selbst, in dem wir horizontal arbeiten und sicherstellen, dass die Menschen, die gefilmt werden, sich wohlfühlen und eine Stimme haben, um über ihr eigenes Bild zu sprechen. Es geht darum, diese Hierarchien zu beseitigen, die der traditionelle Film oft reproduziert.

Valery: Juli, du hast ein Thema angesprochen, zu dem ich euch beide direkt fragen wollte: Wie hat das Umfeld von Medellín und eure Community eure Arbeit und die Geschichten, die ihr erzählt, beeinflusst?

Ismael: Nun, ich denke, dass das Aufwachsen in Medellín und das Ansehen dieser Art von Filmen natürlich Auswirkungen hat. Ich spreche hier aus meiner eigenen Perspektive, als jemand, der nicht im Zentrum von Medellín lebt, sondern in der Peripherie. Und als junger Mensch, der ständig in diesen Filmen repräsentiert wird, hat das definitiv eine Wirkung. Es ist schwierig, sich selbst ständig als Opfer zu sehen. Nicht nur, dass das Leben dir diese Opferrolle aufdrückt, sondern auch das Kino, das die Tragödie deines Lebens immer wieder darstellt. Das ist sehr schwer.

Aber ich glaube, das Kino ist so wunderbar, dass es ein Raum sein kann, in dem wir diese Darstellung transformieren. Ich denke, das ist es, was Crisálida versucht. Wenn wir im realen Leben oft die Schlachten verlieren, kann das Kino ein Raum sein, in dem wir sie gewinnen. Auch wenn das im wirklichen Leben nie passiert, ist das Kino ein Ort, an dem es möglich ist. Ich denke, es war in der Vergangenheit wichtig, die Tragödie auf die Leinwand zu bringen, klar, man musste diese Realitäten anklagen. Aber jetzt geht es darum, darüber hinauszugehen und neue Zukunftsperspektiven zu entdecken, in denen wir auch gewinnen können.

Valery: Vom ersten Konzept einer Idee bis hin zur Umsetzung: Wie habt ihr diese nachhaltigen und widerständigen Praktiken, insbesondere den antiespezistischen Ansatz, in eure Filmprojekte eingebunden? Wie leiten diese Prinzipien eure kreativen und technischen Entscheidungen während des gesamten Prozesses? Denn es ist sicherlich keine einfache Entscheidung. Ich stelle mir vor, dass es schwierig ist, ein veganes Catering für ein Filmteam zu organisieren oder auf Plastik zu verzichten, obwohl Plastik oft so praktisch ist. Aber man muss sich der schädlichen Auswirkungen bewusst sein.

Juliana: Die Wahrheit ist, es war sehr schwer. Es ist wirklich schwierig, weil man als Dissident*in in irgendeiner Form den Systemen und Normen entgegentritt, und das ist kompliziert. Der Markt ist so ausgerichtet, dass bestimmte Praktiken, die dem Markt nützen, vorherrschen. Wir sind so stark an diese Praktiken gewöhnt, dass es schwierig ist, dagegen anzukämpfen.

Ich denke, das, was es für uns ein wenig einfacher gemacht hat, ist, dass unser Team bei Crisálida eine sehr schöne Art hat, diese Entscheidungen zu treffen. Aber ich musste viel darüber nachdenken, vor allem in Bezug auf Klassenfragen. Zum Beispiel verstehen wir, dass die Art und Weise, wie wir uns ernähren, tief in der Kultur und der Eigenheiten bestimmter Orte verwurzelt ist. Es ist komplex, den Menschen ein Bewusstsein für die Empathie gegenüber Tieren zu vermitteln, wenn sie nie dazu angeleitet wurden.

Zum Beispiel in einem unserer Drehs vor etwa fünf Jahren, als wir beschlossen, dass unser Catering immer vegetarisch sein würde, was für uns nicht verhandelbar ist. Ich habe viele Klassenfragen im Zusammenhang mit dieser Entscheidung, weil ich das Privileg habe, diese Entscheidung zu treffen, und viele Menschen, die dieses Privileg ebenfalls haben, es nicht tun.

Juliana: Zum Beispiel werde ich nicht zu einer*m Landwirt*in gehen und ihn oder sie kritisieren, weil er oder sie eine Henne so behandelt, wie er oder sie es tut. Denn das ist etwas, das man gelernt hat, und oft scheint es keine andere Option zu geben, wie man sich ernährt. Es ist wirklich kompliziert.

Ich erinnere mich an einen Drehtag, bei dem es zu einer Konfrontation kam. Für einige Leute war es schwierig, und in dem Moment sagte mir eine Person, dass sie das Gefühl hatte, ich würde ihr moralisch etwas aufzwingen. Das hat mich ziemlich hart getroffen und mich dazu gebracht, mich zu fragen, ob ich die Dinge richtig angehe. Ich fühlte mich schlecht. Aber später sprach ich in aller Liebe mit dem ganzen Team und erklärte ihnen, was ich fühlte. Ich fing sogar an zu weinen und sagte ihnen, dass das Thema der Beziehung zu anderen Spezies für mich sehr schwer wiegt. Das Öffnen meiner Augen für die Gewalt, die Ausbeutung und die Folter, die den Tieren angetan wird, berührt mich tief in meiner Seele. Ich erklärte ihnen, dass ich in meiner Firma, wenn ich entscheiden kann, wie ich die Ressourcen ausgeben soll, niemals Geld dafür ausgeben werde, um Kadaver von Tieren zu kaufen, weil ich nicht damit einverstanden bin. Ich sagte ihnen, dass ich ihnen keine Ernährung aufzwinge. Das war die Art und Weise, wie ich das Essen bereitstellte, aber wenn jemand sein eigenes Stück Fleisch mitbringen und essen wollte, hätte ich damit kein Problem. Aber ich glaube, wir können gemeinsam entscheiden, wie wir wirtschaftlich vorgehen und unsere Ressourcen einsetzen.

Und das ist für mich sehr wichtig. Es geht nicht nur um das Essen, sondern auch darum, wie wir den gesamten Prozess gestalten. Bei Crisálida versuchen wir, uns so gut wie möglich der Abfallproblematik bewusst zu sein. Zum Beispiel, wenn wir an Orten drehen, an denen es Probleme mit der Müllentsorgung gibt, versuchen wir, kein Plastik zu verwenden. Vor kurzem waren wir bei einem Dreh in Bahía Málaga, einem unglaublichen Ort voller Biodiversität, aber schwer zugänglich. Wir haben uns mit pflanzlichen Proteinen eingedeckt, weil wir wussten, dass dort in erster Linie Fisch konsumiert wird, da es am Meer liegt. Da man mit dem Boot fahren muss, weil der Ort schwer zugänglich ist, war es sehr anstrengend; wir mussten alles selbst tragen. Später haben wir uns dann auch mit Tania, die das Essen zubereitete, hingesetzt, um zu besprechen, wie wir die Zutaten kombinieren und Gerichte zubereiten können, die keine Tiere enthalten.

Und obwohl es oft einfacher wäre, das nicht zu tun und einfach das zu kaufen, was vor Ort verfügbar ist, denke ich, dass es eine Anstrengung ist, die sich lohnt. Das gesamte Team ist bereit zu helfen. Jede*r bringt seine oder ihre eigene Brotdose und Besteck mit, und so vermeiden wir es, Plastik zu verwenden. Es scheint eine kleine Sache zu sein, aber es hat einen enormen Einfluss, besonders wenn man an Orten dreht, an denen es schwierig ist, Abfall zu entsorgen. Ja, es ist eine Herausforderung, aber es ist nicht unmöglich. Es geht nur darum, bereit zu sein, sich etwas weniger komfortabel zu fühlen, vom einfachen Weg abzukommen und wirklich über das nachzudenken, was wichtig ist. Es sind wirklich kleine Dinge, aber wenn man Plastik vermeiden kann, seine eigene Ausrüstung tragen kann, anstatt Tiere damit zu belasten, dann summiert sich das. Klar, wir tragen mehr, aber wir töten keine Tiere.

Valery: Es geht darum, sich auch ein bisschen unwohl zu fühlen, weil wir in den Städten oft nicht darüber nachdenken, was mit dem Müll passiert. Und ich denke, es ist ein Prozess, der in den Menschen bleibt, oder? So etwas wie ein Lernprozess, bei dem man sieht, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, Dinge zu tun. Und wie du sagst, es wird niemandem schaden, wenn sie einen Monat lang keine Tiere essen.

Das bedeutet, sich vielen hegemonialen Strukturen des Kinos zu stellen, und das auf vielen Ebenen. Das ist eine große Herausforderung. Wie glaubt ihr, habt ihr es geschafft, diese Authentizität und eine treue Repräsentation zu bewahren, trotz der Erwartungen, die an euch gestellt werden? Denn trotz allem sind eure Arbeiten sehr weit gekommen.

Ismael: Ja, es gibt viele Erwartungen, und das sind Erwartungen, die einem schon von der Universität, vom System, beigebracht werden. Sie lassen dich glauben, dass, wenn du keinen “richtigen” Film machst, du nur Videos für deine Freund*innen machst. Aber das Wichtige, zumindest für uns, war, nicht an diesen Mythos zu glauben. Für uns ist es wertvoll, Videos für unsere Freund*innen zu machen.

Ich erinnere mich an die Erfahrung in Leipzig, wo wir an diesem alternativen Ort voller unglaublicher Menschen gezeigt wurden. Es war nicht der typische Validierungsraum mit rotem Teppich und all dem, aber für mich war es einer der wichtigsten Orte. Am Ende ist der Film nur eine Ausrede, um über die Dinge zu sprechen, die uns in diesem Moment beschäftigen, und er bringt uns aus ganz unterschiedlichen Ecken zusammen. Egal, ob wir aus Itagüí kommen oder kolumbianische Migrant*innen in Berlin sind, das Kino ist dieser Punkt, an dem wir Fragen über die Welt stellen können. Mit meinen Freund*innen haben wir zum Beispiel den Cine Foro Pirata, und mehr als um die Filme geht es darum, über viele verschiedene Dinge zu sprechen, über mehr als nur Fotografie und Bildgestaltung. Wir nehmen den Film und verbinden ihn mit einem Text, und es ist ein Raum, in dem junge Menschen ihre Probleme artikulieren und Verbindungen schaffen können. Zum Beispiel haben wir “El Gran Movimiento” von Kiro Russo gesehen, der von einem Minenarbeiter in Bolivien handelt. Und ich dachte: “Wow, der ist wie ich, ein junger Arbeiter im Kapitalismus, nur in einem anderen Kontext.”

Valery: Und man findet dann auch organisch sein Publikum, oder? Es ist, als würde sich alles energetisch ausdehnen, und diese Räume fangen an aufzutauchen. Ich würde gerne wissen, was euch inspiriert. Welche Werke, Kunstbewegungen oder persönlichen Erfahrungen waren für euch grundlegend in eurer kreativen Entwicklung?

Juliana: Puh, vieles. Es gibt einen Filmemacher, den ich sehr mag, Nicolás Pereda. Er ist einer meiner Lieblingsfilmemacher. Ich erinnere mich, dass ich den ersten Film von ihm gesehen habe, “Verano de Goliat”, und ich dachte: “Das ist das Kino, das ich machen will.” Es war eine Mischung aus Fiktion und Dokumentarischem, eine sehr bewusste Fiktion, aber es gab auch etwas sehr Lebendiges in den Charakteren. Ich wurde sofort ein großer Fan von ihm und seiner Gruppe, die sich “Teatro Lagartijas al Sol” nennt. Sie hinterfragen viel, und ich verfolge ihre Prozesse sehr genau. Sie haben auch Texte geschrieben, die mich sehr inspirieren, und in meinem Unterricht benutze ich oft Beispiele von ihnen.

Auch aus anderen Bereichen schöpfe ich viel Inspiration. Ich bin ein großer Fan der Horrorliteratur, und im Moment begeistert mich die argentinische Schriftstellerin Mariana Enriquez. Sie mischt das Politische mit dem Übernatürlichen. Sie spricht über die argentinische Diktatur und das Verschwindenlassen von Menschen, und plötzlich bringt sie einen Vampir oder ein besessenes Mädchen ins Spiel. Das inspiriert mich sehr.

Juliana: Das hat mich auch in meinen Kurzfilmen beeinflusst. Sowohl in Sodoma als auch in La Noche del Minotauro gibt es diese Suche nach dem Mysteriösen, und diese Lektüren haben mich sehr inspiriert. Auch Albertina Carri und Agustina Comedi mag ich sehr. Zwei Filmemacherinnen, die viel mit Archivmaterial und Gegen-Narrativen arbeiten. Mir gefällt, wie sie die Bilder neu konfigurieren. Albertina hat zum Beispiel einen Film, der mir sehr gut gefällt, Pets, in dem sie pornografisches Archivmaterial verwendet, um über den Blick zu reflektieren. Und natürlich hat mich die gesamte Post-Porno-Bewegung auch sehr beeinflusst. Zum Beispiel Maria Llopis, eine Spanierin, mit ihrem Buch El postporno era eso, das wie ein Tagebuch ist. Dieses Buch hat mir sehr geholfen, das Konzept des Post-Porno besser zu verstehen.

Auch in den bildenden Künsten inspirieren mich Künstlerinnen wie Nadia Granados, die in ihren Performances sehr instinktiv und kraftvoll mit ihrem Körper arbeitet. In letzter Zeit habe ich versucht, solche Formen der Viszeralität in meiner Arbeit zu erkunden.

Ismael: In meinem Fall habe ich mich in letzter Zeit viel damit beschäftigt, wie ich mich in einer Welt, die in einer Krise steckt – sozial, ökologisch und auch auf dem Arbeitsmarkt –, dem Erwachsenwerden stelle. Es gibt Autor*innen, die mir geholfen haben, diese Zeit zu überstehen, wie Ursula K. Le Guin, eine großartige Frau. Sie stellt die These auf, dass die Vorstellungskraft und die Fiktion keine Kleinigkeiten sind. Sie versucht, diese naturalistische Tendenz zu durchbrechen, und zeigt, dass wir in der Fiktion Räume finden können, in denen wir über neue Lebensformen spekulieren können.

Auch Donna Haraway und Mark Fisher haben mich sehr beeinflusst. Wenn wir uns die Frage stellen, ob es keine Alternativen zur Welt gibt und ob wir nur den Kapitalismus oder das Chaos haben, dann wird die Vorstellungskraft zu einem sehr wichtigen Fenster, um über andere Lebensweisen nachzudenken. Und das Kino bietet einen sehr weiten Raum, um sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Man muss nicht immer große Budgets und filmische Hegemonien haben, um diese Vorstellungskraft zu entfalten.

Es gibt einen Film, den ich immer erwähne, weil er mich sehr beeindruckt hat: Le Monde Vivant von Eugène Green. Er bringt die Vorstellungskraft auf eine sehr zugängliche Ebene. Es ist ein mittelalterlicher Film, der aber in den 2000er Jahren spielt. Die Ritter tragen Schwerter in ihren Jeansgürteln. Einer der Charaktere, der “Ritter des Löwen”, wird immer wieder gefragt, wo sein Löwe sei, und wir hören ihn brüllen. Dann sieht man den Löwen im Close-up, und es ist in Wirklichkeit ein Golden Retriever, den sie zum Brüllen gebracht haben. Am Ende des Films gibt es eine Szene, die mir besonders gut gefällt, in der zwei Charaktere, der Ritter des Löwen und eine Prinzessin, nach einem Kampf mit einem Oger zusammen allein sind. Sie sagt: „Jetzt sind wir allein.“ Er fragt: „Warum sagst du, dass wir allein sind, wenn wir doch zu zweit sind?“ Und sie antwortet: „Weil die Sprache es uns erlaubt.“ Ich finde das unglaublich schön, weil das Kino eben nicht die Realität widerspiegeln muss, es muss nicht faktisch sein. Das Kino hat seine eigene Logik, die unabhängig ist, und ich glaube, wir können diese Logik zu unserem Vorteil nutzen, damit zumindest die Welt in den Fiktionen nicht endet.

Valery: Es ist faszinierend, wie Fiktion und spekulative Erzählungen eine so große Rolle in dem spielen, was ihr macht. Zum Abschluss möchte ich euch fragen, ob ihr eine Erfahrung teilen könnt, bei der das Magische oder das Traditionelle euren Weg bestätigt oder euren kreativen Prozess bereichert hat.

Juliana: Ich glaube, ich habe mehrere solcher Erlebnisse gehabt. Ich habe gelernt, der Intuition Raum zu geben und das Unerwartete geschehen zu lassen. Zum Beispiel, als wir mit Analú Laferal an El Origen de las Especies gearbeitet haben, einem Film, den sie zusammen mit Tiagx drehte. Tiagx drehte mit uns auch El Tercer Mundo Después del Sol. In diesen Projekten gab es viele wichtige Momente, und Analú hat uns auf unserem Weg vom Vegetarismus zum Veganismus begleitet. Sie hat uns erzählt, dass sie schon sehr jung dem Katholizismus abgeschworen hatte, aber eine spirituelle Leere hinterlassen wurde, und sie wusste nicht, wie sie aus diesem Loch heraus zu neuen Formen der Spiritualität finden sollte. Mit dieser Idee von Ritualen kam sie dann zu uns, und das war sehr wichtig für den kreativen Prozess dieser Werke.

Ich denke, es gab Momente, wie zum Beispiel bei den Dreharbeiten zu Presagio, als wir in einer Höhle filmten. Wir filmten sie, und dann wurde eine Überblendung des Feuers gemacht, und in der Szene fängt ihr Herz an zu brennen, während Wasser aus der Höhle tropfte. Plötzlich waren wir alle in einem sehr meditativen Zustand, und wir filmten sehr lange. Ich erinnere mich, dass Analú später sehr berührt war und weinte. Es war, als hätte dieser Moment aufgehört, eine Inszenierung zu sein, und zu einem Ritual wurde. Das passierte uns in vielen Momenten.

Ein anderes Mal waren wir mit ihr im Dschungel, und sie trug Latexkleidung und war kopfüber an einen Baum gebunden. Sie bringt sich selbst immer an die Grenze, und das erlaubt uns, das Gefühl zu haben, dass wir etwas Echtes erleben, vor allem, weil sie ihren Körper einsetzt. Das macht den kreativen Prozess völlig anders.

Und dann passieren manchmal auch Dinge aus reinem Zufall. In einer Szene tauchte plötzlich ein Pferd auf und blieb stehen. Analú blieb stehen und starrte es an. Es sind Dinge, die ohne Planung geschehen und dich überraschen. Es war etwas völlig Unerwartetes. Aber es gibt auch nicht immer nur positive Einflüsse. Zum Beispiel bei einer Szene in El Tercer Mundo Después del Sol, als Analús Katze gestorben war. Sie war tief betroffen von diesem Verlust, und als sie diese Performance mit Tiagx machte, brachte sie diese Trauer in ihre Handlung ein. Das gab dem Moment eine viel größere Tiefe, die sich dann auch auf die Leinwand übertrug. Ich denke, das Kino ist manchmal wie eine Einladung an andere, ein Ritual mit dir zu erleben.

Ismael: Ich glaube, es ist wirklich schwierig, sich in dieser säkularen Zeit zurechtzufinden. Auch wenn wir uns von der Religion distanziert haben und diese Dinge, die uns von der Religion aufgedrängt wurden, ablehnen, ist sie auch eine Art Segen. Es bleibt eine große Leere auf vielen Ebenen. Eine Leere, die sich mit der Vernunft zu füllen scheint, die angeblich alles ersetzt hat, was früher die Religion füllte, mit dem Faktualismus, dem Glauben, dass die Dinge nur dann gültig sind, wenn sie überprüfbar sind.

Ich glaube, dass das Kino eine Gelegenheit bietet, sich dem entgegenzustellen. Und ich spreche nicht nur vom Kino als solches, sondern auch vom kreativen Prozess. In den Drehs von Crisálida ist es mehr als nur die Arbeit der Regie oder der Produktion. Es wird zu einer Arbeit, die darauf abzielt, einen Raum zu schaffen, in dem bestimmte Dinge geschehen können, in dem Menschen zusammenkommen, die sich lieben, und das in einem unglaublichen Raum.

Ich erinnere mich an den Dreh von El Tercer Mundo Después del Sol, als wir mit Freund*innen nach Bahía Málaga gingen. Bevor wir zu drehen begannen, machte Analú ein Ritual. Ich erinnere mich auch daran, wie Alejo und ich den Sonnenuntergang ansahen. Es war ein magischer Moment, einer dieser Momente, die man nur beim Drehen erleben kann. In diesem Fall führt uns das Drehen an Orte, die wir auf andere Weise nicht erreichen könnten. Ich denke, das gilt sowohl für den kreativen Prozess als auch für den Moment, in dem man den Film sieht. Kino ist eine Art modernes Ritual. Heute haben wir ansonsten nichts Vergleichbares. Für Menschen, die nicht an einen Gott glauben, kann das Kino eine kollektive Erfahrung bieten, die wir auf andere Weise nicht erleben würden. Für mich ist das Kino wie der Besuch einer Techno-Party. Ich glaube, dort erlebt man etwas Ähnliches. Es ist etwas sehr Schönes, wenn man anfängt, seine eigene Spiritualität zu entwickeln und diese Erfahrungen zu machen, die nichts mit Vernunft zu tun haben, sondern mit unserem instinktiven Selbst, einem Raum, um unsere Ängste zu kanalisieren, einem Ort, an dem wir uns auslassen und zur Ruhe kommen können.

Ich bin ein sehr ängstlicher Mensch, aber ich fühle mich ruhig, wenn ich sage: „Gott wird es schon richten“, weil ich weiß, dass alles schiefgehen kann, aber am Ende ist da etwas, das uns hält. Es muss nicht unbedingt der katholische Gott sein, aber es ist etwas da.

Valery: Vielen Dank, Juliana und Ismael, für dieses so bereichernde Gespräch. Von La Sur Real aus möchten wir euch unsere Bewunderung und Zuneigung für eure Arbeit aussprechen. Wir hoffen, euch bald wiederzusehen, entweder hier oder in Kolumbien. Erzählt uns, wie kann man eure Arbeit verfolgen? Wo kann man mehr über euch erfahren?

Juliana: Vielen Dank, auch von unserer Seite. Für uns war es auch sehr wichtig, dabei zu sein. Ich war begeistert von dem Raum, den ihr geschaffen habt, und wir schätzen diese Plattformen sehr, die auch widerstehen und Filme zeigen, die andere Wege suchen. Wenn es diese Räume nicht gäbe, hätten wir keine Möglichkeit, unsere Filme zu zeigen. Es ist eine gemeinsame Arbeit, und der Widerstand in der Vorführung ist entscheidend, um gegen das Monopol der Filmvorführung anzukämpfen, das so stark ist und es sehr schwierig macht, andere Arten von Filmen zu sehen, insbesondere solche aus anderen Teilen der Welt.

Für mich war es sehr wichtig. Ich würde gerne wiederkommen. Es war großartig, dabei zu sein, und vielen Dank, dass ihr uns zu diesem Gespräch eingeladen habt. Ihr könnt uns auf Instagram folgen: @Crisalidacine und @fuego.cine. Dort könnt ihr all unsere Werke und andere Sachen sehen.Ismael: Ja, vielen Dank, Valery. Ich schließe mich allem an, was Juli gesagt hat. Für uns war es eine wunderbare Erfahrung, bei eurem Festival zu sein. Dass dieser Raum existiert, ist sehr inspirierend und relevant, weil er es vielen Werken aus diesem Teil der Welt ermöglicht, mit Menschen in einem anderen Land in Dialog zu treten.Ich finde das sehr schön. Wenn ihr mehr über unsere Filme wissen wollt, könnt ihr auf www.crisalidacine.com gehen. Dort findet ihr alle Informationen.